Hunger und Einsamkeit

Fastenzeit

Seit jeher schnallten die Menschen den Gürtel enger, bevor die Natur ihren Winterschlaf beendete und die Vorratskeller sich leerten.

Auch wenn der Frühling endlich begann, gab es zuerst nicht viel mehr als Hoffnung und ein paar grüne Sprossen.

Statt zu verzagen, machten die Menschen aus der unfreiwilligen Fastenzeit eine kollektive Zeremonie. Das Hungern bekam damit eine heilige Dimension und war viel leichter zu ertragen. Wer fastete, stärkte die eigene Seele für das kommende Jahr mit seiner Arbeit und seinen Härten.

Was wir darüber leicht vergessen:

Wenn die Speisekammer leer war, konnte das Fasten der Starken die Schwächeren vor dem Hungerstod bewahren.

Menschen, die fasteten, überließen die knappen gemeinschaftlichen Resourcen freiwillig den Kindern, den Alten und den Schwachen

Fasten stärkte unsere Seele und lehrte uns Tapferkeit und Gemeinschaftssinn.

Das jährliche Fasten begann am Aschermittwoch und endete zur Osterzeit. Ich kannte noch einige alte Damen, die Jahr um Jahr zu dieser Zeit fasteten. Nicht zum „Entschlacken“, sondern zu Ehren ihrer Religion. Manche verzichteten auf den Sonntagsbraten. Andere fasteten richtig und tranken nur Wasser oder, Luxus!, ein bisschen Malzkaffee.

 

Das kollektive Gedächtnis erinnert sich an die Not früherer Fastenzeiten und wir erleben dies jetzt neu.

Unser kollektives Unterbewusstsein weiß um die vielen Menschen, die zu dieser Zeit des Jahres einfach nicht mehr konnten und, trotz hellerer Tage und erster grüner Sprossen, verhungert oder erfroren sind. Die Zeit nach Weihnachten, Hanukka, Heiligen drei Königen, Lichtmess und Karneval ist psychologisch, und oft auch körperlich, bis heute noch eine Hungerszeit.

Wenn du gerade spürst, dass dir die Kräfte ausgehen, denk daran, dass viele deiner Gefühle kollektiv sein könnten. Ohne Frage liegt dieses Jahr besonders viel „Hunger“ in der Luft.

Zu den kollektiven Erinnerungen von Hunger und Not kommen die aktuellen Gefühle und realen Sorgen der Menschen, denen gerade das Geld ausgeht. Selbstständige müssen ihr Geschäft aufgeben. Die Stromnachzahlungen eines eisigen Winter trudeln langsam ein. Steuererklärungen sind fällig.

Überall wird abgerechnet und wir liegen im Minus.

Das einzige, was diesen Hunger und diese Bedrohung lindern könnte, außer dem panischen Versuch, ein online Business aufzubauen - ist jetzt der Blick über den Rand es eigenen, leeren oder knapp gefüllten, Tellers. Was gerade mit uns geschieht, war seit Jahren absehbar. Und für viele Menschen ist es seit ihrer Geburt das einzige, was sie kennen.

 

Hunger nach Mit-Menschlichkeit.

Was an Nahrung, Resourcen oder Geld fehlt, fehlt auch an Wärme und Berührung. Corona hat es einfach nur sichtbar gemacht:

Wir sind kollektiv im Defizit, was Berührung und Lächeln betrifft und zwar schon seit langer Zeit.

Für sehr viele Menschen ist Isolation und Einsamkeit seit endlosen Jahren der Normalzustand.

  • Unsere Neugeborenen werden von Babyphones bewacht, statt im Arm einer liebenden Person zu träumen.

  • Wir sitzen seit Jahrzehnten jeden Morgen und Abend alleine, mit unserem “Kaffeee to go” im Auto oder der U-Bahn.

  • Wir arbeiten in kleinen Kabuffs und sitzen abends allein vor dem Fernseher und bestellen Pizza.

  • Die Menschheit dröhnt sich mit Pillen oder Alkohol oder Zucker zu, weil das Leben, und insbesondere die Einsamkeit, sonst zu sehr schmerzt.

  • Viele alte Menschen vergammeln einsam in schlecht ausgestatteten Heimen vor Essen, das andere nicht mit der Beißzange anfassen würden.

  • Viele junge Menschen, insbesondere Mädchen, entschließen sich, ihren Körper systematisch aus dieeser Misere “herauszuhungern”. Dies ist kein (oder nicht nur) Schönheitswahn sondern ein spiritueller Aufschrei und, auf tiefster Ebene, reinste Einsamkeit

 

Lockdown gab es schon immer. Die Alten und die Neugeborenen und die Verrückten und die Arbeitslosen und die Asylanten und die Schwachen und die Unbelehrbaren sitzen seit jeher im Lockdown.

Das Phänomen ist überhaupt nicht neu.

Es kommen jetzt nur auf einmal all die Leute hinzu, die bisher tapfer und effizient und zunehmend hektisch alles getan haben, um nicht in das große subventionierte schwarze Loch zu fallen, in das alle „Nutzlosen“ und „Dummen“ und „Nicht-Weiterbildbaren“ und „Unprofitablen“ und „Faulen“ und “Übersensiblen” abgeschoben wurden.

 

Eine Gesellschaft, die wirklich in Harmonie mit ihren menschlichen und mitmenschlichen Bedürfnis gewesen wäre, hätte eine grundsätzlich andere Antwort auf Corona gefunden.

Wir hingegen haben, wie kleine Kinder, alles “Papa Staat” überlassen und jetzt hoffen wir, wider besseres Wissen, dass die Obrigkeit alles wieder heil machen wird. Das wird sie nicht, und so eine Regierung wollen wir auch nicht.

Wir sind keine kleinen Kinder. Wir sind nur alle sozial ein wenig unreif und oft geradezu verwahrlost.

Unsere soziale Unreife, unser gieriges “Ich zuerst” auf allen Ebenen sind der Grund, dass wir dieser Pandemie völlig hilflos gegenüberstehen. Wir sind allein und lassen, wie alle einsamen Kinder, unsere Verzweiflung an anderen Kindern aus – vorzugweise im Internet.

Corona hat unser narzisstisches, hungriges, verzweifeltes und sozial-verwahrlostes Defizit ans Licht gebracht.

Mit einem Mal finden sich viele der „Tapferen“ und „Starken“ ebenfalls in einer Situation der Schwäche. Sie dürfen nun gerne umdenken.

Und dann können wir alle unsere bisherige Arroganz und das verzweifelte Gefühl, etwas Besonderes sein zu MÜSSEN, einfach mal auf den Schrotthaufen unserer Evolution packen und unsere Ausbildung zum sozialen Wesen vorantreiben.

Viel Zeit haben wir nicht. Denn dass die Zukunft uns nicht nur viele kompetente Mutanten von Corona sondern noch ganz andere Lebensformen bringen wird, ist klar.

Es ist Zeit, dass wir Menschen unsere, seit so langer Zeit für selbstverständlich genommene, Machtposition auf diesem Planeten auf etwas anderes gründen als Geld, Geschrei und rohe Gewalt.

In Liebe, Christine

 

hungry-soul:

Ich habe gemeinsam mit einigen Freundinnen ein Projekt begonnen, das sich als Kollektiv unentgeltlich um Mädchen und junge Frauen kümmert, die unter der aktuellen Situation besonders leiden. Dabei geht es insbesondere um Essstörungen und Körperbild, Sexualität, Emotionen und unsere abgerissene Beziehung zu Mutter Erde.

Aus dieser Arbeit ist nebenbei auch ein Buch für junge menstruierende Mädchen und Frauen entstanden. Es wird gerade editiert.

Wenn du neugierig bist oder einfach reden willst, melde dich bei mir.

christine li3 Comments