Magie und das gewöhnliche Leben

Glück oder Magie?

 

Magie ist für viele nichts als der Stoff alter Geschichten – oder ein nettes Thema für eine gruselige Fernsehserie über Hexen und Hexer oder einen Film für Kinder.

In unserem Alltag spielt Magie lange schon keine Rolle mehr.

Gelegentlich begegnen wir ihren Schwestern, dem „außergewöhnlichen Glück“ und dem „unverdienten Unheil“, in Form von Lottogewinnen und schrecklichen Unfällen oder Krankheiten.

Nur den ganz kleinen Kindern lassen wir eine Weile ihren Glauben an das Zauberlied der Dinge. Wir finden es sogar ganz niedlich, wenn sie an den Weihnachtsmann und an die Zahnfee glauben. Aber irgendwann muss Schluss sein mit diesem übernatürlichen Blödsinn.

 

In seinem weiteren Verlauf bevorzugen wir das Leben berechenbar, geplant, kontrolliert und letztendlich langweilig und uninspiriert.

 

Diesen Preis zahlen wir gern für unsere Sicherheit und stets gleichmäßigen Komfort. Jetzt aber hat mit Corona uns Menschen die Erkenntnis gebracht, dass wir zwar einen hohen Preis für Sicherheit und Komfort zahlen, dass wir die Unberechenbarkeit aber keineswegs aus unserem Leben verbannt haben. Nun sitzen wir im Lockdown und wissen nicht, wie uns geschieht.

Klopapier-Stapel sollen uns daran erinnern, dass wir für unsere Lebensreise eigentlich lebenslangen Komfort gebucht hatten.

Doch langsam verstummen die letzten Gewissheiten.

Ab und zu schleichen wir mit Masken vor die Tür und wissen doch zugleich, dass diese Schutz-Maßnahmen uns allerhöchstens einen letzten winzigen Aufschub gewähren:

 

Rückkehr der Wildnis

Nun hat die Wildheit den Weg zurück in unsere gepflegten Vorgärten und sterilen Büros gefunden. Sie steht vor unserer Tür und blitzt uns aus schmalen dunklen Augen an. Fledermäuse ziehen lautlos über den nächtlichen Himmel.

Für Flucht ist es zu spät.

Die Götterwelt schickt uns ihre Dschungel-Medizin in Form kleiner RNS-Schnipsel, von manchen Corona-Virus genannt, und erinnert uns, dass es da draußen eine Welt gibt, die uns seit Generationen fremd geworden ist.

Während wir uns im Lockdown verbarrikadieren, reift in vielen eine Ahnung, dass wir selbst immer noch Teil jener Welt sein könnten, die wir für lange Zeit nur als Rohstoffreservoir betrachtet haben.

Die Höhlen und Urwälder und Tiefen der Ozeane sind unsere Heimat und ihre sichtbaren und unsichtbaren Geschöpfe sind unsere Familie.

 

Daoistische Weisheit

Die chinesischen Daoisten haben unsere Verbundenheit mit der Natur stets betont. Sie haben schon vor 2500 Jahren davor gewarnt, ein „Maschinenherz“ zu bekommen – ein Herz, das alles auf seinen Nutzen und seine Praktikabilität hin untersucht und den inneren Zauber der Welt darüber vergisst.

Ein Buch ist es, das uns besonders eindringlich von Dingen spricht, die wir längst vergessen haben:

Dao De Jing: Der Klassiker über das Dao und die magische Kraft

 

Rückkehr der Magie

Lange haben wir gewähnt, die Zeit der Magie sei vorbei.

Doch sie ist es nicht und wird es nie sein. Sie existiert und wirkt, ob wir sie wahrnehmen oder nicht. Magie tritt nicht nur in Form von Tsunamis und Lottogewinnen in unser Leben.

Magie wirkt zart und leise.

Sie schleicht durch die Nacht und huscht sacht um eine finstere Ecke. Sie schießt giftige Pfeile und trifft uns ins mitten Herz – dann schmerzt es, und wir wissen nicht warum.

Magie ruft zu uns im zaghaften Singen eines Vogels.
Sie zeigt sich im Wiederfinden einer Socke, die sich hinter dem Schrank versteckt hat.
Sie antwortet auf unser Rufen in Form einer unerwarteten E-Mail.

Magie schleicht sich an von allen Seiten.

Sie will unsere Gefängnisse sprengen und uns ins Leben zurücklocken. Sie will unsere Langeweile und Einsamkeit in Poesie und Gelächter verwandeln.

Magie weiß um unsere Bestimmung und sie weiß, wer unsere wahre Familie ist.

Noch sitzen wir in unserem Lockdown. Verwirrt. Vielleicht brauchen wir noch eine Weile, zu begreifen, dass wir Teil der Natur sind. Wir können uns nicht mehr verstecken. Selbst wenn diese Pandemie vorüberziehen sollte: Die nächste wird kommen.

Das Leben ist stärker als wir.

Wenn wir weiterhin in dem Wahn verharren, wir wären etwas Besonderes und könnten isoliert und im Alleingang über die Erde brausen, wird es uns aus unseren Verstecken zerren und töten.

In der Legende der Bremer Stadtmusikanten gibt es den unsterblichen Satz: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Bisher haben wir nur nicht danach gesucht.

Wenn wir dereinst zurück ins Leben tappen, dürfen wir uns auf die Suche machen.

Wir könnten wieder Teil der lebendigen Welt werden, die uns vor Urzeiten so vertraut war. In der Wildnis finden wir unsere alte Familie, unsere Ahnen und unsere verlorene Magie zurück.

 

Abalone und die Schlangengöttin – eine Legende für unsere Zeit

In letzter Zeit denke ich oft, wie sehr die “Legende von Abalone” unser aller Geschichte ist. Nach 13 Jahren kommt Abalone aus ihrem Versteck. Stumm. Verwirrt. Verängstigt.

Sie mag eigensinnig sein. Aber eine Superheldin ist sie nicht.

Sie hat überhaupt keinen Plan. Trotzdem geht sie ihren Weg.

Kleine Schritte zuerst, unentschlossen, taumelnd. Doch mit jedem Schritt wächst sie, sind findet ein neues Leben und sie erobert ihre Magie zurück. Sie wird zu der Frau, zu der sie bestimmt ist. Sie ist eine Göttin. Genau wie wir.

christine li2 Comments