Könige, Bettler und Influencer

Seid ihr schon einmal von Leuten blitzschnell abgecheckt worden, die herausfinden wollten, wozu ihr ihnen nützlich sein könntet?

Klar, natürlich seid ihr das. Es fühlt sich ätzend an.

 

99 Prozent unseres Leben drehen sich darum, ob wir hübsch, sexy, reich, jung, berühmt, einflussreich oder erfolgreich genug sind. Das ist unser Normalzustand. Wir haben es verinnerlicht.
Wir leben in Dauerangst, dass andere Leute uns links liegen lassen könnten. Tatsache ist, dass Leute das wirklich tun. Eigentlich jeden Tag.

 

Wir sind da absolut nicht paranoid.

  1. Es ist ein Fakt.
    Es passiert überall und immer. Nicht nur beim Networken, auf Instagram oder Tinder. Wer elegant gekleidet ist, eine allgemein für gut befundene Körperform (und -farbe) hat, berühmt ist, oder zumindest jemanden kennt, die jemanden kennt, wird besser behandelt.

    In jeder f…ing Hinsicht.

  2. Wir tun es alle.
    Wir teilen Menschen in Klassen ein, in Schubladen, die uns sofort sagen, wieviel unserer Mühe, Zeit oder Aufmerksamkeit wir in sie investieren. Vielleicht verwenden wir nicht die handelsüblichen Schubladen von „reich, schön und berühmt“. Aber was wäre mit „cool“ oder „interessant“ oder „spirituell“ oder “kennt jemanden, die…”?

    Ganz ehrlich: Wir tun es alle.

 

Manchmal müssen wir unsere Einordnung revidieren, weil ein Menschen im abgerissenen Trainingsanzug sich als Promi herausstellt (oder ein Mensch im biederen Anzug ein hoher Lama/berühmter Rapper ist).

Es gibt viele Anekdoten darüber. Es ist ein beliebtes Filmthema. Es ist DAS Thema schlechthin. Die Story, die alle lieben.
Wir freuen uns, wenn jemand anderes als wir selbst auf die Verkleidung hereinfällt, wenn die großmäuligen Angeber entlarvt werden und das hässliche Entlein als Schwan entdeckt wird.

Schließlich sind die meisten von uns Königinnen in Bettlergewand, die sich ein Leben lang wünschen, dass irgendjemand diese Verkleidung durchschaut. Darum geht es hier aber nicht.

 

Hier geht es darum, dass wir es selbst andere Leute beurteilen. Es geht um unsere alltägliche Triage.

Triage ist das, was die Notärztin tun muss, die in einer Massentragödie blitzschnell entscheidet, bei welchen der Verletzten ihre wenigen Medikamente und ihre kostbare Zuwendung am sinnvollsten eingesetzt werden.
Triage wird eingesetzt, wenn bei einer Pandemie nicht ausreichend Masken oder Testsets oder Beatmungsgeräte vorhanden sind.
Genauso betreiben auch wir Triage: Hoffnungslose Fälle lassen wir liegen und vergeuden keine kostbaren Ressourcen mit ihnen. Andere bekommen ab und zu ein “smiley”. Andere laden wir zum Essen ein.

 

Wir betreiben Triage, wenn wir innerlich auf Abstand gehen, wenn ein „langweiliger“ Mensch uns auf einer Party zutextet, während wir eigentlich viel lieber mit jemand “Interessantem” sprechen wollen: Vielleicht ist dies die letzte Party, auf die wir je eingeladen werden. Wir müssen schnell und effizient das Beste herausholen. Spaß haben. Es auf Instagram posten. Ehe es zu spät für uns ist und wir bei den Losern enden.

Wir verhalten uns wie in einer Notfallsituation.

Wir hetzen effizient durch harmlose Begegnunen und fröhliche Abende, immer auf der Suche nach guten Kontakten und guten Selfies. Das Leben war ursprünglich nicht als Notfallsituation konzipiert. Unsere seelischen Resourcen wurden erst dann begrenzt, als wir begannen, sie als solche erleben.

 

Das ist nicht nett für die, die wir schlecht behandeln. Für uns selbst ist es eine Tragödie.

Nein, nein. Keine Sorge. Hier kommt jetzt kein moralischer Aufruf. Das Universum ist nicht moralisch. Warum sollten wir es also sein?

Fast überall auf der Welt gibt es die Legende von Gott oder einem König, der sich als Bettler verkleidet, um herauszufinden, wer seine getreuen Untertanen sind. Wie wir wissen, sind in dieser Geschichte die reichen Leute hartherzig und geizig und die ärmste Person im Dorf erweist sich als großzügig, teilt ihr letztes kleines Würstchen mit dem" “Loser” und wird „königlich“ belohnt. Die Moral von der Geschichte ist, dass wir immer hilfsbereit sein sollen, denn gute Taten werden am Ende immer belohnt. Dies ist sehr tröstend und erbaulich, aber nicht wahr, wie wir ebenfalls wissen.

 

Der schamanische Kern der Geschichten vom verkleideten König

Es geht nicht nur um den König/Gott (in solchen Geschichten immer ein Mann), der die guten Menschen seines Reiches finden will.

Wenn in der Genforschung bestimmte Gene sehr weit verbreitet sind, sind sie meistens sehr alt. Auf Geschichten trifft das auch zu. Geschichten, die es auf der ganzen Welt gibt, stammen oft aus Zeiten vor oder bis kurz nach der Völkerwanderung - also lange, bevor die jüdisch/christlich/muslimische Moral uns zurechtgestutzt hat.

Wenn wir die patriarchalische Moral (den Vater, der uns auf unsere moralische Qualität prüft) aus diesen Geschichten entfernen und sie auf ihren schamanischen Kern reduzieren, was bleibt von diesen Geschichten?

 

Es bleibt eine universelle Geschichte vom göttlichen Funken, dem magischen „Ling“ der Chinesischen Magie, den Botschaftern der Geisterwelt, den Seelenvögeln, die sich lieber dort niederlassen, wo sie ohne Berechnung, mit Lachen, Gesang, Tanz, Freude und Schnaps willkommen geheißen werden.

(Die alte Mali in meinem neuen Buch „Abalone und die Schlangengöttin“ hat das lange schon begriffen. Abalone ist noch zu jung, sie hat Wünsche und Ambitionen – entsprechend fliegt ihr dann erst einmal alles um die Ohren.)

Wir könnten Freude, Gelassenheit und Großherzigkeit kultivieren, ohne uns um den kurzfristigen oder langfristigen Nutzen zu sorgen.

Wir könnten, wie es so schön heißt, die Feste feiern, wie sie fallen, und nicht an morgen denken.

Wir könnten aufhören, immer so berechnend zu sein.

 

Sind wir in der Lage, in allen Dingen unserem Herzen zu folgen und nicht unserer Angst und unserem Mangelbewusstsein? Sind wir in der Lage, zu bloggen, zu schreiben, auf social media zu zeigen, wer wir wirklich sind – ohne sofort unsere „likes“, unsere Analytics und unsere Follower zu checken? Ich glaube, wir sind es (noch) nicht.

Deshalb sind wir nicht so magisch, wie wir sein könnten. Dabei wissen wir alle, welchen Charme (= Zauber) eine Person entfalten kann, die nicht jede ihrer Handlungen und Worte berechnet. #candid

 

Deshalb erleben wir lange nicht so viel Spaß und Zauber, wie wir könnten. Ich glaube aber auch, dass wir es schon sehr bald lernen werden. (Gerade weil uns zur Zeit die internationalen Brocken und Viren mächtig um die Ohren fliegen.)


Macht ihr mit?

PS: Wenn ihr berühmte Influencer seid, liked diesen Post und shared ihn auf Instagram ;)


PPS: Wenn viele von uns jetzt (wegen Covid-19 alias Corona-Virus) mit Klopapier und Dosenravioli zuhause sitzen, ist es vielleicht auch eine gute Gelegenheit, zu überlegen, welche Menschen und Veranstaltungen wir wirklich vermissen und welche uns, unerwarteterweise, kein bisschen fehlen. Wenn diese Pandemie, und es wird nicht die letzte sein, vorübergezogen ist, werden wir alle mehr darüber wissen, was unsere Prioritäten und Werte sind und wie wir unser kostbares Leben zubringen möchten. Dann hat die Corona-Epidemie sich doch geradezu gelohnt.