Abalone und die Schlangengöttin
Kapitel 1: Der Karpfen
Jiankang, Chinas Hauptstadt, an einem eisigen Abend zum Ende des Jahres des Holz-Hahnes (325)
Die kleine rote Tür hing in ausgeleierten Lederriemen. Sie führte vom Frauenhof in den großen Park. Dort residierte der Alte Herr.
„Es versteht sich, dass ihr euch dort nicht sehen lasst!“, hatte Frau Wu bei unserer Ankunft in der Hauptstadt verkündet und die dünnen Kohlebrauen gehoben: „Ich sage das, weil man euch die einfachsten Dinge erklären muss.“
Vergangenen Winter war dies gewesen. Seitdem wartete ich. Verborgen hinter seidenen Vorhängen harrte ich auf meinem hochbeinigen Lager. Die Mädchen im Hof, beladen mit Speisen und Feuerholz, kamen und gingen, während der Mond wuchs und verblühte, und die Zeit zerfloss wie Wolken im Wind.
Wieder kam ein Winter. Der volle Mond erhob sich und warf sein Licht auf die kleine rote Tür. Die fahlen Strahlen zitterten, als ob er sich fürchtete. Dies war keine Nacht, den Hof zu verlassen.
Doch meine Geduld war verbraucht.
Auf dünnen Strümpfen, die hölzernen Muji in der Hand, schlich ich ins Vorzimmer. Frau Wu seufzte leise im Schlaf. Vor der Tür hatte sich Kleine Wolke zusammengerollt. In der Halle darunter kuschelten die übrigen Mädchen sich in ihre durchlöcherten Decken.
Der Hof lag verlassen und still. Verbeulte Eimer und zerschlagene Schüsseln warfen scharfe Schatten auf ausgetretene Steinplatten. Ich schlüpfte in meine Muji und stakste zwischen all dem Unrat auf die kleine rote Tür zu. Als ich dagegen drückte, bröselte Lack unter meinen Fingern. Noch einmal sah ich mich um und lauschte zum Haus zurück. Kein Laut. Da trat ich hinaus in den Park.
Der Karpfen stand im dunklen Wasser unter einer kleinen geschwungenen Brücke. Vielleicht verstand er meine Sprache.
‚Ich bin auf dem Weg zu Mali, die niemals schläft‘, erklärte ich ihm, lautlos.
Er ließ eine silbrige Blase aufsteigen.
‚Wenn jemand zu lange allein ist, wird das Herz zu Eis‘, fügte ich hinzu.
Eine weitere Blase zerplatzte. Dann schwamm er davon. Er war nicht anders als alle anderen hier.
Der Weg führte durch einen kleinen Bambuswald. Als die letzten Stangen sich lichteten, blieb ich stehen. Mali hockte breitbeinig vor einem Feuer und trommelte mit einem Schöpflöffel gegen einen rußgeschwärzten Eisenkessel.
Ihre raue Stimme durchdrang die Nacht: „Düstere Krabbler und hungrige Kriecher, hört mein Lied! Die alte Mali, die niemals schläft, besprengt euch mit Schwefelwein. Sie räuchert euch mit Beifuß aus. Sie tanzt und stampft, bis ihr zerplatzt.“
Trockene Blätter knisterten unter meinen harten Sohlen. Der steife Brokat des Kleides kratzte und kribbelte.
Wie fremd sie mir geworden war! Ich sollte besser umkehren.
Da blickte sie auf und legte den Löffel beiseite: „Du bist es! Ich dachte schon, du kommst nie mehr. Komm! Setz dich zu mir!“ Ihr riesiger Bauch hüpfte vor Vergnügen.
Kapitel 2: Hirse und Lilien
Vorsichtig stakste ich über Reste von zerschnittenen Wurzeln und verschrumpelten Gemüseschalen. Dann stand ich vor ihr.
Mali ergriff meine Hände und besah mich von oben bis unten: „Beim Einbeinigen! Aus der Nähe möchte ich fast meinen, du wärst ein blutleeres Gespenst. Die lockigen Haare starr von Wachs. Mit all der weißen Schmiere im Gesicht und diesem Knisterstoff am Leib. Wo sind deine schönen Kleider geblieben, die mit den regenbogenfarbenen Goldfinken und fliegenden Schiffen?“
Meine Hände lagen eisig in ihren warmen Pranken.
Sie schnalzte mit der Zunge: „Stick dir neue! Eine Frau muss sticken können.“
Das gleiche sagte auch Frau Wu. Den lieben langen Tag kniete sie auf ihrem Lager und sortierte bleiche Seidenfäden. Aber ihre Mandarinenten und Kiefernzweige langweilten mich.
Sie ließ meine Hände los und hob einen Finger: „Stick, was dir gefällt! Wir Menschen haben keine Federn. Wir müssen unsere Haut verzieren oder uns wenigstens in etwas hüllen, an dem unsere Toten erkennen können, wer wir sind. Sonst gehen wir verloren.“
‚Ach Mali‘, wollte ich sagen, ‚solche Kleider werden hier nicht gern gesehen. Die Alte Dame hat sie mir gleich bei meiner Ankunft auf ihren Landgütern vom Leib gerissen. Vor all ihren weißgeschminkten Damen hat sie mich als Wilde beschimpft.‘
„Ich hab von dieser Dame gehört“, knurrte Mali.
Sie hörte immer noch meine Gedanken, denn sie war eine Yue. Eine dunkle Frau aus den schwülen Wäldern des Südens. Als Kind hatte mir das nichts ausgemacht. Doch die Alte Dame und ihre vornehmen Dienerinnen fanden alles, was aus dem Süden kam, unheimlich. Rückständig sei es. Unzivilisiert.
Vielleicht hatten sie recht. Ich erinnerte mich kaum noch an die alte Heimat.
„Tot ist die Alte. Tot wie ein Schwein in der Blutwurst. Die Alte Dame bist nun du. Warum kommst du erst jetzt?“
Ich senkte den Kopf.
„Hast die alte Mali wohl ganz vergessen? Bist am Ende zu fein geworden für Leute wie mich?“
Mein Gesicht glühte unter der dicken Schminke. So war es nicht. Es war, weil mein Kopf voller Nebel war und alle Gedanken sich darin verloren.
„Ist ja gut, Kindchen. Setz dich erstmal hin!“
Ich rollte einen der Holzklötze vom warmen Feuer fort in die Dunkelheit und setzte mich.
Ihre Augen, klein, rund und schwarz, wie die Augen eines Igels, verengten sich zu schmalen Schlitzen: „Rennst du immer noch vor dem Feuer davon?“
Wie seltsam sie das sagte. Hatten nicht alle Menschen Angst vor Feuer?
„Mir scheint, wir haben eine Menge zu tun.“
Malis braunes Gesicht glühte im Feuerschein. Tiefe Furchen durchkreuzten die gestichelten schwarzen Linien ihrer Haut. Die krausen Haare waren ergraut. Doch die Grübchen in ihren Wangen, die bunt bestickte Schärpe, der Anzug aus schwarzem Hanf, das alles war wie damals.
Sie sah immer noch aus wie jene Köchin, die vor langer Zeit die besten Dampfbrötchen von Nanhai gemacht hatte. Die Wellen um sie herum schimmerten immer noch heller als bei anderen Menschen.
Hinter Mali erhob sich ein schiefer kleiner Pavillon. Vor dem Eingang baumelten Siebe und Netze, Schöpfer und Dämpfer an einer Stange aus Bambus. Auf einem wackeligen Regal stapelten sich große und kleine Schüsseln. Bauchige Krüge lagen auf der Erde, sauber geschwefelt, damit sich kein Geziefer einnistete.
Eine gewachste Decke war über unsichtbare Schätze gebreitet. Krüge mit eingesalzenem Gemüse vielleicht oder Bambusrohre voll seltsamer Schnäpse. Ein eiserner Ofen wartete mit offenem Mund.
Ein Bett brauchte Mali nicht.
Sie griff nach ihrem Schöpflöffel, füllte eine Schale mit dampfender Grütze und häufte goldenen Zucker aus einem hölzernen Fass darüber.
„Hier Kindchen, erst wird was gegessen!“
Die Schale lag rau in meinen Händen. Ich rührte darin herum. Hirse und Liliensamen. Zimt und rote Datteln. Zum Essen war ich nicht gekommen. Aber warum war ich hier?
„Aufessen!“, sagte sie.
Gehorsam tauchte ich den Löffel ein. Der Brei schmeckte süß. Mali war eine der wenigen, die sich darauf verstanden, den Saft des struppigen Zuckerrohres in süße Kristalle zu verwandeln. Sie konnte alles kochen, sobald sie es auch nur einmal gerochen hatte.
„Unsereins kocht keine Schlangen“, erklärte Mali. „Wir kochen sie nicht. Wir essen sie nicht. Wir töten sie nicht. Niemals. Wir kochen auch keinen Aal.“
Ihre Stimme klang dunkel bei diesen Worten. Ob sie verrückt geworden war? Zwölf Jahre waren eine lange Zeit.
„Dreizehn Jahre!“, verbesserte Mali. „Vor dreizehn Jahren sind wir vom Schiff gestiegen. Ein Jahr vorher hast du den Alten Herrn zu uns gebracht.“
Sie stand auf und beugte sich so tief über mich, dass unsere Nasen sich beinahe berührten: „Ein ganzes Jahr vorher. Da war ein Jahr dazwischen. Das musst du dir merken!“
Sie setzte sich wieder auf ihren Holzklotz und füllte meine Schüssel noch einmal auf.
„Bist dünn geworden.“
Ich rührte in der dampfenden Grütze, roch den Zimt und die roten Datteln, zerdrückte süße goldene Kristalle an meinem Gaumen. Zwölf Jahre oder dreizehn. Dick oder dünn. Was kümmerte mich das alles? Meine wenigen Gedanken galten alle dem Alten Herrn. War er etwa nicht mein Mann?
„Eine Geisterhochzeit war das“, entfuhr es Mali. „Mein Herz ist beinah zerrissen an jenem Tag.“
Da fiel mir wieder ein, warum ich zu Mali gegangen war.
„Herbstmond lachte. „Ich mag blind sein, doch umso mehr nehme ich Gerüche wahr. Die ältere Schwester riecht nach Beifuß und Atractylodis, nach Blut und nach Tinte, nach Kalmuswurzeln, Schilf und modrigem Wasser.
Ich glaube sogar, da ist ein Hauch von Schwefel und Krötengift. Ihr riecht wie ein verführerischer Fuchsgeist nach einer Reise in die Unterwelt.“
„Aber Herrin!“, rief Pfirsichblüte. Ihre kleine Nase war ganz weiß geworden. „So könnt ihr doch nicht reden!“
Ich lächelte Pfirsichblüte zu.
Herbstmonds Worte kränkten mich nicht. Es hätte mich durchaus nicht gestört, ein Fuchsgeist zu sein, zauberhaft genug, um einsame Gelehrte von ihren Büchern fortzulocken.“